Und jedem Ende wohnt ein Zauber inne

Die Waldohreule wunderte sich, wer so sehnsüchtig fiepte, und schaute um sich.
Das graue Eichhörnchen stand jeden Morgen früh auf und trank nur einen Schluck Wasser, bevor er sich mit dem Nussjagd beschäftigte. Jeden Morgen kletterte er den kleinsten Baum im Wald, wo er wohnte, rasch herab, dabei machte er kurze Pausen um um sich zu sehen.
Jeden Morgen stand die rote Taube auf dem äußeren Ast der mächtigen Eiche gegenüber und grüßte ihn. Eines Tages fragte sie ihn warum er im kleinsten Baum des Waldes wohne.
“Ich habe Höhenangst…”, sagte das graue Eichhörnchen und putzte seine Nase mit seinen beiden zarten Pfoten. Alle Bewohner des Waldes lachten ihn aus; die Taube auch. Dem Eichhörnchen war das egal, er sprang weiter und sammelte fleißig Nüsse für den Winter.
Am nächsten Morgen hastete die rote Taube erneut zum kleinen Baum und traf das graue Eichhörnchen an; sie grüßte es und entschuldigte sich für den vorherigen Tag. Er hatte die Situation schon vergessen… “Wofür entschuldigst du dich denn?”, fragte das Eichhörnchen.
“Egal..”, sagte die Taube. “Wohin gehst du heute so früh?”
“Ich muss Nüsse für den Winter sammeln.”, antwortete das Eichhörnchen.
“Hast du immer noch nicht genug gesammelt?”
Das Eichhörnchen lachte herrlich und sagte: “Ich habe wirklich viel gesammelt, viel mehr Nüsse als ich in einem Leben essen könnte. Das Problem ist nur, ich vergesse immer wo ich die Nüsse versteckt habe.”
Die rote Taube fand das traurig und riet dem Eichhörnchen den Baum, in dem er die Nüsse versteckte,  zu markieren.
“Ich werde das Zeichnen auch vergessen”, sagte er.  
“Dann knabbere doch an die eine oder an die andere Nuss gleich, wo die noch frisch sind, denk nicht viel an den Winter. Für die Zukunft zu arbeiten ist nur gut, wenn man das Jetzt nicht dabei vergisst.”
Das Eichhörnchen lächelte und sprang weiter.
Am Morgengrauen des dritten Tages, war die Taube da auf dem äußeren Ast als das Eichhörnchen aus seinem Kobel herauskam.
Die Taube grüßte ihn und sagte: “Heute werde ich dir helfen, ich fliege über dir und merke mir wo du die Nüsse versteckst, und wenn du das irgendwann vergisst, dann fragst du mich.”
Das Eichhörnchen könnte sich nur schwer an die Taube erinnern, dennoch freute er sich, dass jemand ihm helfen würde.
“Ok, vielen Dank”, sagte das Eichhörnchen bevor er weiterfuhr: “Als Belohnung gebe ich dir jeden Tag fünf großen Walnüsse.” 
“Abgemacht!”, erwiderte die Taube.
Und so entstand eine enge Freundschaft zwischen den beiden Einzelgängern. Aufgrund ihrer Farbe war die rote Taube von den anderen grauen Tauben abgestoßen und galt als teuflisch. Auch das graue Eichhörnchen wurde von den roten Eichhörnchen abgestoßen und wurde ‘totes Hörnchen’ genannt, keiner mochte mit ihm befreundet sein.
Nach einer Weile, gewöhnte sich das Eichhörnchen an die Taube und trotz seiner vergesslichen Natur, erwartete das Eichhörnchen sie jeden Tag auf dem Geäst der mächtigen Eiche. Sie trafen sich jeden Morgen; sie sagte ihm wo er die Nüsse versteckte und er gab ihr immer die fünf Walnüsse. So blieb alles einige Wochen. Nun wurde es langsam kälter und die Taube müsste in das nächste Dörfchen fliegen um da den Winter in einer Scheune zu verbringen. Eines kalten Nachmittags gab das Eichhörnchen ihr eine große glänzende Haselnuss, sie war die schönste Haselnuss, was sie je sah.
“Warum gibst du mir diese schöne Haselnuss?”, fragte sie. “Ich weiß wie Eichhörnchen Haselnüsse über alles lieben.”
“Du bist jetzt meine Freundin.”, sagte er.
Am nächsten Tag wollte sie ihn mitnehmen, sie wollte ihn zeigen, dass seine Angst vor den Höhen und Fliegen nur irrsinnig ist.
“Komm!”, sagte sie. “Spring auf meinen Rücken, wir fliegen zusammen einmal um den Wald. Es ist sehr schön von oben, und hab keine Angst, dir wird nichts passieren, ich fliege seitdem ich ein Kind war.”
Das graue Eichhörnchen weigerte sich, und ging voller Furcht in seinen Kobel zurück. Sie schrie laut, er solle rauskommen, er gab aber keinen Ton von sich.
Die waghalsige Taube war wütend, sie wollte ihm erklären, dass sie über den Winter weg bleibt, und sie sich erst nächstes Jahr sehen; sie hatte Angst er würde sie vergessen. Ihre Angst verschluckte sie aber vollkommen, verdaute sie, und spie nur noch Zorn aus.
“Du bist ein kleines dummes Eichhörnchen, dessen Kopf so klein ist, dass er sich weder an Orte noch an Wesen erinnern kann!”, schrie die Taube.
“Und du bist eine böse teuflische Taube!”, kam eine zitternde Stimme aus dem Dunkeln des Kobels.  
Die rote Taube flog weg, das graue Eichhörnchen blieb in seinem Kobel.
Der Winter war kalt und lang.  
Eines Frühlingsmittags wunderte sich die Waldohreule, wer so sehnsüchtig fiepte, und schaute um sich. Da saß die rote Taube auf einem Ast und flennte. 
Die Taube kam vor einem Monat aus der Scheune, wo sie überwinterte, sie versuchte das graue Eichhörnchen bei dem kleinsten Baum des Waldes, bei der mächtigen Eiche, überall nachzuspüren, vergeblich.
“Du, rote Taube; warum fiepst du? Es ist Frühling und schön, du sollst fröhlich gurren!”, rief die langohrige Eule.
“Ich habe meinen Freund verloren, das graue Eichhörnchen! Haste du ihn gesehen?”.
Dann hat die rote Taube der Waldohreule ihre Geschichte mit dem grauen Eichhörnchen erzählt.
“Komm mit! Ich zeige dir etwas.”, rief die Eule.
Die beiden flogen bis zum Waldrand, da war ein großer schöner und rötlich glänzender Haselstrauch. Am Fuß des Baumes saß das graue Eichhörnchen neben einem Haufen Nüsse und knabberte eine Haselnuss an.
“Er erinnert sich!”, gurrte die Taube lächelnd.

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