Der Ruf des toten Vogels

Immer wenn er da ist, schaut er mich skeptisch an. Für ihn mache ich nie etwas richtig.
Er sitzt, oder auch steht, man weiß es nicht genau, immer links von mir zur Seite und schreit drei mal. Es sind kurze und tiefe Läuten, als würde er "hey, nicht so!" meinen. Und immer wenn ich dann zu ihm schaue, den Kinn nach oben fragend, "Wat denn?"
"Chill mal!", schreit er.

Der wild braune Uhu ist ruhig, er taucht zuweilen auf, sagt seinen Satz und verschwindet auch schnell danach. Zuweilen beobachtet er mich tagelang ohne etwas zu sagen, er schaut hin mit seinen fürchterlichen rotorangen Augen als würde es ihn belustigen, mich zu verunsichern. Dann vergehen Wochen und Monate ohne ihn. Er tut mir nichts, ich mag ihn trotzdem nicht, seine Anwesenheit ist schwerwiegend, sie drückt auf meine Brust als wäre ich Zweihundert Meter in die Atlantik abgetaucht. ich traue ihm nicht; er schaut mich ständig vorwurfsvoll mit seinen Schlitzaugen an, ich habe das Gefühl, dass er mich kennt, dass er weiß, was in meinem Kopf vorgeht. Er sieht immer gelangweilt aus, als würde sich alles bei mir wiederholen, die selben ausgedachten Probleme und die selben ausgebastelten Lösungen. Er nickt dann und dreht seinen Kopf um 180 Grad nach unten, sein Blick aber scheint nicht verwirrt zu sein, nicht der eines Hundes, der gerade sein Herrchen nicht versteht, nein! Er scheint zustimmend zu sein, als würde er mir "genau! so!" sagen.
Mein lieber Uhu ist Schwarz-Braun, seine Federohren sind meistens gesenkt, er hat seine Augen fast immer halbauf, die Schlitzaugen nenne ich sie. An seiner Brust fehlen einige Feder, er sieht oft verbraucht aus, als hätte er nur zwei Stunden geschlafen oder seinen Kaffee noch nicht getrunken. Sein Sentiment scheint mir eher genervt und gelangweilt und energielos zu sein, und diese scheiße ist hoch ansteckend. Wenn er Mal da ist bleibe ich lieber im Bett. Alles was ich mache gefällt ihm nicht, seine veruteilende Blicke deprimieren mich und kratzen mein sonst sehr starkes Selbstbewusstsein blutig. Wir sind Freunde, denke ich, nicht auf Augenhöhe jedenfalls, er hat die obere Hand.
Sehr selten ruft er, und wenn, dann weil ich in tiefen selbstzerstörenden Gedanken versinkt bin, er weckt mich also auf. Immer wenn ich auf einer hohen Brücke stehe oder am Rand eines Gleis kurz bevor die Bahn einfährt und ich in die Tiefe blicke, ruft er! Ich fürchte seinen Ruf sehr, er gibt mir Gänsehaut, mein Herz rast für ein paar Sekunden, ich hasse dieses Gefühl, daher vermeide ich die Höhen und die Kanten, ich sage immer, dass ich Höhenangst habe. Ich habe Angst eher vor dem Fall und vor seinem Ruf, der versucht, mich aufzuwecken.

Einmal vor vielen Jahren entkam ich seiner Sicht, ich war auf dem Gleis der S-Bahn liegend eher er schrie. Seine Schreie waren diesmal besonders furchtbar und beklemmend und im Nu sprang ich hoch. Ich war alkoholisiert, so sah das Ganze normal aus. Danach lag ich drei Wochen im Bett mit gebrochenem Bein, und er saß am Fenster die ganzen drei Wochen lang. Er schaute mich wieder vorwurfsvoll an, diesmal mit einem Hauch Empathie, dennoch war er zornig. Er weckte mich jeden Morgen mit einem seiner Schreie auf. Als wäre das eine Erinnerung für den Weg. Eine Warnung für die Zukunft, ein Verbot!

Ich habe auch vor seinen Augen Angst, sie durchbohren mich, sie rauben mir meinen Schleier. Ein Blick bringt mich aus dem Gleichgewicht, schmeißt meine Anonymität an die Wand. Ich habe Mal ein Mädchen mit ähnlichen Augen geliebt, diese aufregende Angst, die einen nackt hinstellt, ich sehe mich in ihnen gespiegelt: mager, mit Augenringen, bloß, preisgegeben... hautlose Gestalt. Oh wie ich dieses Mädchen geliebt habe.

Ich habe meinen Uhu aus grundlosem Hass keinen Namen gegeben, er ist mein toter Vogel. Manchmal frage ich mich, ob er einen Namen für mich hat, ich erinnere mich dann daran, dass er alles über mich weiß, meinen Namen vermutlich auch.
So wie er mein Fluch ist, bin ich auch sein.

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