Schnappsregalromantik: Ein Berliner Abend.

Mitte Dezember, Nachmittags kurz vor fünf Uhr, der Wind saust durch die von Kälte gelähmten Häuser und ich sitze halb erfroren auf dem Rücken Luzifers. Er richtete seinen Blick auf das kahl braune Bahnhofsgebäude.
Was tun wir hier, mir ist kalt, kannst du nicht woanders hinfliegen, dahin wo es wärmer ist ?”, fragte ich ihn vor Kälte zitternd.
Er hielt seinen Zeigefinger vor meinen Mund und sagte: “Bleibe still, konzentriere dich und schaue zu, du wolltest ja den Sinn hinter all dem verstehen.”
Ein junger Mann stieg aus der angekommenen U-Bahn aus, er sah mürrisch aus. Der schlanke Mann, mit dem knochigen Gesicht und dem Mutti-Pullover und dem Rucksack aus Stoff sah wie ein alter Freund von mir aus, mir kam jedoch nicht bei, wer das war.
Er lief die Treppe herunter, ging schließlich durch den Ausgang und wartete an der roten Ampel. Nachdem er die Straße überquerte, betrat er den Späti um die Ecke. Er wusste schon genau was er kaufen wollte und wo es in den verschiedenen Regalen platziert ist. Er ist schon ein Stammkunde, denke ich. Die Verkäuferin erkannte ihn.
Na sach mal, wo bis'n du denn jewesen? Ick hab dich seit bestimmt August nisch mehr jesehen”, sagte sie laut in ihrem berlinerischem Dialekt. Er hasste nichts auf der Welt mehr als Dialekte, nicht nur den der Berliner, sondern alle Dialekte und Akzente, obwohl er selbst mit einer leicht verfärbten Sprache sprach. Es war nicht wirklich ein Akzent; ein eigentümliches Etwas, so ein Sachverhalt für Sprachexperten, ein einzigartiges Exemplar, nirgends einzuordnen. Er mochte lieber die Anonymität der Hochsprache.
Ich war beschäftigt, hier und da, ich war auch kurz weg.”, sagte er.
Das wäre alles..”
Na, wie immer halt, wa? Wodka und Mate. Aber warum der teure Wodka diesmal?”, fragte die Verkäuferin.
Nichts besonderes, die Flasche sieht hübsch aus, und ich möchte was Neues probieren.”
Dit macht drei Euro sechzisch.”, sagte sie, und begann die Flaschen zu scannen.
Ich fand das seltsam, bestimmt arbeitet sie seit langem in diesem Späti und kennt die Preise schon auswendig. Komisch dachte ich mir.
Sie zeigte ihm eine Tüte, ob er die auch mitnimmt; er schüttelte den Kopf, nein.
Sach ma, ist heute wat?”
Wie meinst du das?”
Ist ja noch nisch 17 Uhr und fängst an zu saufen!. Da musset nen Grund dafür jeben, weeßte?”
Ach so, so meinst du das.”, lachte er dabei, bevor er fortfuhr: "Nein, heute ist nichts Besonderes. Die Sonne ist schon untergegangen, da kann man ruhigen Gewissens trinken.“
Schade!”, sagte sie und setze sich auf ihren Stuhl. “Ick dachte, es jibt ja irgendwo ne Party oder so, ick mach inna Stunde Feierabend und hab Lust wat zu machen, weeßte? Ick war seit langem nisch mehr feiern, und dich kenne ick ja schon.”
Tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen, das ist nur mein Feierabend Getränk, ich gehe gleich nach Hause.”, sagte er während er seinen Drink mischte.
Dit macht ja nüscht, auch Zuhause kann man gut feiern."
Er lächelte und wünschte der Verkäuferin einen schönen Feierabend und ging raus, während sie seinen Gang aus dem großen Glasfenster beobachtete.
Sie dachte, er verstand ihre diskrete Botschaft nicht, und er hoffte, dass sie glaubte, dass er sie nicht verstanden hätte.

Luzifer breitete seine Flügel aus und flatterte mit ihrer breiten Weiße in der kalten Luft.
"Komm!”, sagte er. “Wir ziehen weiter!”.

Der junge schlanke Mann, lief über die Ampel zur Oberbaumbrücke. Vor ‘Musik und Liebe’ stoppte er für eine Weile und drehte sich eine Zigarette, und weil er darin miserabel war, war sie die primitivste aller gedrehten Zigaretten. Er macht immer denselben Fehler; er nutzt den Brösel, was allein schon schwierig ist für das Drehen, er leckt das Papier auch nicht ausreichend, und deshalb ist das Papier beim Anzünden trocken, löst sich auf, und der Tabakbrösel fliegt dann überall herum.
Diese primitiv gedrehte Zigarette ging auch auf und der Brösel flog überall, er ärgerte sich deswegen und fluchte laut: “verdammte Kacke!”, trat dabei auf einen Hundehaufen. Er blieb kurz stehen und versuchte die Situation zu begreifen, reckte anschließend seine Fußsohle angeekelt empor. “Scheiße!”, sagte er dann leise in sich hinein.
Er begriff im Nu, wie der Abend aussehen wird; die Beschissenheit der Dinge zeigte sich allmählich.
Er lief weiter auf der Brücke, kurz vor der Mitte drehte er sich zur Seite und blickte Richtung Osten, da stand der Molecule Man und schaute in seine Seele hinein. Sein eiserner Blick machte ihn nervös. Der kalt feuchte Wind blies ihm ins Gesicht und die Mütze vom Kopf. Es war erfrischend. Er lauschte, wie die Spree geräuschlos den Ekel der Großstadt davontrug. Ohne die glitzernde Reflexion des Neonlichtes auf den winzigen dünenförmigen Wellen, konnte man gar nicht erkennen, ob da ein Fluss fließt, oder ein tiefer Abgrund der Hundenstadt ruht.
Mir ist langweilig!”, sagte ich.
Du wolltest doch Antworten haben!”, schrie Luzifer.
Ja, was soll man hier verstehen?, ein Mann der nicht mal eine Zigarette drehen kann. Das ergibt doch keinen Sinn.”
Luzifer nickte zu mir, dass ich auf seine Flügel aufsteigen soll. Ich tat es.
Wir flogen durch Friedrichshain, über die Kopernikus Straße, und landeten auf der Tram Elektroleitung. Ich hatte zum ersten Mal keine Angst. Weder vorm Fliegen noch vor der Hochspannung, nicht mal vor Luzifer selbst, der Böse aller Bösen. Luzifer zeigte auf einen älteren Herr vor einem Späti, der sein Bier sitzend genoss. Auf ihn zu kam der junge Mann.
Capito! Mein alter Freund wie geht’s dir?”
Ich fand das seltsam, entweder flogen wir langsam, oder der Mann war abartig schnell. Komisch, dachte ich mir.
Der ältere Herr rührte sich nicht vom Fleck.
Der junge Mann fasste ihm am Schulter an und sagte: “Capito! Ich bin’s Nafri, hast du mich vergessen oder was? Wir haben uns doch in Prenzlauer Berg bei Bruder Ömer getroffen, du hast mich immer ausgelacht, dass ich Beck’s Lemon getrunken habe, und ich dich, dass du Sternburg gesoffen hast.”
Der ältere Herr drehte sich zu Nafri und sagte: “Ist ja gut, setze dich doch!”.
Ich hole mir noch Wodka-Mate.”, sagte Nafri.
Erzähl mal, wie geht’s dir? Was machst du in Friedrichshain? Bist du umgezogen, oder hast du dich mit Ömer gestritten?”
Ich bin tatsächlich umgezogen, Ömer’s Dönerladen gibt’s nicht mehr; seinen Vertrag wollte der verdammte Brite nicht mehr verlängern, und statt dem Späti da gibt’s bald ein Deli-Restaurant.”
Krass!”, sagte Nafri. “Aber dir geht’s gut?”
Warum soll mir nicht gut gehen?”, sagte Capito. “Meine Rente wurde 37,50 Euro pro Monat erhöht, und ich musste deswegen umziehen, weil mein Wohnungsmietvertrag somit nicht mehr gilt, nun zahle ich 150 Euro mehr monatliche Miete, dafür habe ich aber ein Fenster im Bad. Ist alles doch super. Der Sterni kostet hier zwar 1,50 Euro, weil ich aber ein Stammkunde geworden bin, bekomme ich die Flasche für nur einen Euro.”
Du kannst doch bei Aldi eine Kiste kaufen. Da sparst du mächtig.”, erwiderte Nafri.
Und dann? trinke ich zuhause allein vor dem Fernseher und schaue mir RTL an, nicht wahr?”, schrie Capito. Er nahm einen Schluck und erzählte weiter: “Wenn alle sechs Stammkunden bei diesem Späti so machen, was soll der Betreiber dann tun? Er schließt, und hier wird stattdessen noch ein Steakhaus oder ein glutenfreies Café öffnen. Ne, das tue ich nicht.”
Aber du hast doch nicht genug Geld, oder?”, fragte Nafri.
Ach, was soll’s ! Das Schiff sinkt irgendwann!”, sagte Capito lächelnd.
Nafri verstand nicht was er meinte, schaute nur irritiert und sagte nichts.
Ein paar Minuten waren vergangen, ohne dass einer von beiden ein Wort sagte. Nafri beobachtete die an ihm vorbei laufenden Frauen, und Capito glotze seine Bierflasche so an, als spreche sie mit ihm elbisch.
Weißt du, was sie mir beigebracht hat?”, sagte Capito ohne seinen Blick von der Flasche zu wenden.
Wen meinst du?”, sagte Nafri.
Zum einen, man soll keinen anlügen, nicht weil es eine Tugend ist, sondern weil es einem schlechthin scheiß egal sein soll, was Leute über einen denken.
Und zum anderen, das Schiff sinkt irgendwann, und egal ob du dann in der Kajüte sitzt mit dem verrosteten Fernrohr in der Hand und dem Kapitän Hut auf dem Kopf oder auch ob du am Mast fest klemmst und den Tod in die Augen schaust, wirst du mit dem Schiff untergehen. Alles läuft Richtung Abgrund, alle Schiffe werden sinken.
"Ich weiß immer noch nicht, wen du meinst! Wer ist ‘sie’, die dir das beigebracht hat?”, fragte Nafri irritiert.
Capito stand auf ohne etwas zu sagen und ging. Nafri betrachtete ihn beim Weggehen und wartete auf einen Abschied Satz. Capito lief mit sinkendem Blick weiter ohne ein Wort zu sagen oder sich umzudrehen. Nafri betrachtete ihn weiter und wartete auf ein Abschiedswort. Als Capito um die Ecke bog, hoffte Nafri nur noch auf eine Abschied Geste; vergeblich.
Ich schaute Luzifer an, zuckte mit dem Kinn fragend, was ich aus der Szene verstehen sollte. Er sagte nichts.
Nafri trank seinen Wodka aus, kaufte noch eine Flasche Rotwein, und ging. Er lief die Straße hoch zur Kreuzung mit der Warschauer Straße, da wartete er an der Haltestelle auf die Tram, er wollte scheinbar nach Hause. Der Anzeigetafel zeigte sechs Minuten, darunter lief ein Satz, ich konnte aber nicht erkennen, was geschrieben war.
Ein paar Minuten Verspätung.”, sagte Luzifer.
Ich fand das seltsam, er kann auch Gedanken lesen, dachte ich mir.
Ja! Gewiss.”, sagte Luzifer darauf.
Nafri versuchte gerade so eine neue Zigarette zu drehen, als eine Hand ihm ein geöffnetes Schachtel Marlboro vor der Nase hielt.
Es war die Frau vom Späti. Sie lächelte ihn an und sagte: “Nimm doch eine!”
Er nahm sich eine Zigarette und fing an zu rauchen. “Danke dir!”, sagte er.
Na, ein Date würde ich mal sagen!”, sagte die Frau.
Wie bitte?”, fragte Nafri.
Na, der Wein, du hast doch ein Date, warum denn sonst hast eine Flasche dabei.”, sie sprach hochdeutsch.
Nein nein.”, sagte Nafri lachend. “Das ist für mich, ich trinke halt gerne Wein.”
Eine Flasche Wein für dich allein? Am Samstagabend? Lüge mich doch nicht an, du!”
Das ist mein Ernst, ich gehe echt nach Hause, da wartet auch keiner beziehungsweise keine auf mich. Ich schaue mir einen Film an, und trinke die Flasche aus, dann penne ich.”, erwiderte Nafri.
Klingt doch nett. Ich habe auch nichts vor heute, und könnte einen Film gut vertragen.”, sagte die Frau und schaute Nafri in die Augen. Nafri lächelte.
Wir kennen uns ja schon, da habe ich vor dir keine Angst, weißt du?”, sagte die Frau anschließend.
Wir kennen uns nicht, wir haben uns nur ein paar Mal gesehen, ich könnte ein Psycho sein, ein Mörder. Sich kennen, sagt man erst nach einem Kennenlernen.”, sagte Nafri mit einem miesen intellektuellen Ton.
Das kann man ja noch tun”, antwortete die Frau und grinste.
Nafri könnte nichts mehr sagen.
Entschuldige bitte, manchmal bin ich aufdringlich, ich fand dich aber immer nett! Wie dem auch sein mag, ich wünsche dir einen angenehmen Abend, man sieht sich dann, ja!”, sagte die Frau.
Die Tram war gerade an der Ampel, etwa 100 Meter entfernt.
Nafri lächelte der Frau nur zu, und es herrschte eine unangenehme Ruhe an der lauten, überfüllten und dreckigen Haltestelle.
Eher die Tram in die Haltestelle einfuhr, wendete sich Nafri der Frau zu und sagte: “Ich trinke normalerweise direkt aus der Flasche, da ich keine Weingläser zuhause habe, ich hoffe, du hast zwei Weingläser bei dir Zuhause!”
Die Frau lächelte und nickte und sie stiegen in die Tram ein.
Ich wendete mich Luzifer zu, er war aber nicht mehr da.
Ich hörte jemanden schreien, es war eine weibliche Stimme: „Junger Mann! bewegen Sie sich nicht, es ist gefährlich!”
Ich begriff nichts. Ich schaute verunsichert unter mir, da standen drei Polizisten und versuchten die Straße zu sperren.
Junger Mann! geht’s Ihnen gut? sind Sie verletzt?”, schrie die Polizistin nochmal. “Die Feuerwehr ist gleich da, bewegen Sie sich nicht, das sind Hochspannungsleitungen, bewegen Sie sich nicht, alles wird gut!”
Ich begriff endlich, dass Sie mich ansprach. Mir wurde es schwindelig.

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