Als der Nil nach Hause fuhr

Heute ist kein gewöhnlicher Tag. An solchen Tagen muss ich öfter an sie denken.
Ein dumpfer Knall weckt mich auf. Ich mache ein Auge auf, meine Sicht ist noch verschwommen, ich blinzle ein paar Mal um mein trübes Auge zu klären. Meine rechte Wange ist tief im Kopfkissen vergraben, es fühlt sich feucht an und es stinkt als hätte ich eine tote Hyäne geknutscht. Langsam kann ich sehen, mein Auge wandert umher, ich erkenne mein Zimmer, ich liege auf meinem Bauch mit gespreizten Beinen und mein linker Arm hängt vom Bett, sodass meine Fingerkuppen den staubigen Holzboden berühren. Mein Mund ist furchtbar trocken, mein ganzer Speichel ist im Kissen versickert. Ich kann nicht aufstehen, ich brauche immer mindestens eine halbe Stunde um zu mir zu kommen, mein System fährt langsam hoch, sage ich immer, es sind jedoch die steifen Gelenke. Die Gene sind schuld.

Ich habe den Knall gehört, ich bin aber nicht so einer, der schnell aus dem Fenster guckt, um nachzusehen, was gerade passiert ist, ich warte bis ein zweiter Knall grollt, vielleicht sogar bis zum dritten, ich habe es nicht besonders eilig, denn früher oder später läuft alles auf das gleiche hinaus. Ich drehe mich seufzend um und starre an die Decke für eine Weile, Spinnweben sind an drei Ecken des beige-gelben Zimmers zu sehen, ich sehe jedoch keine Spinne. Ich schaue auf die Wände, hin zum Flur, auf den Boden. Nichts. Ich gähne lang und tief genug bis in die letzte Alveole meiner Lunge. Indes ist mein System soweit; ich zwinge mich auf und setze mich für eine Zeit an den Rand des Bettes, mein ganzer Körper tut weh, der Fernseher läuft ohne Ton, eine aufgelöste Reporterin hält ein weißes Mikro in der rechten Hand und zeigt hektisch mit ihrer Linken auf eine Demo hinter sich, sie zittert. Auf der Kommode neben mir ist eine leere Flasche Rotwein. Mein ganzer Körper tut weh, mein Kopf summt wie ein Wespennest, nur zum Glück habe ich keine Kopfschmerzen.
Ich sehe sie vor mir, an der Ecke neben dem Herd murren: „Schon wieder viel gesoffen, bestimmt hast du Kopfweh, das sind die Sulfite im Wein.“

Sie fand immer einen Grund zu meckern, habe ich etwas vergessen, habe ich zu viel gekifft; tat mir mein Fuß weh, habe ich wieder Fußball ohne Dehnung gespielt. Tat mir der Kopf weh, habe ich die Weinflasche allein ausgetrunken. Zehntausend Kilometer und ein blaues Meer trennen uns, dennoch ist sie da, allgegenwärtig.
„Was ist dein Plan?“, fragte sie immer. Das war ihr ewiger Spruch. Ich vermag kaum an sie zu denken, ohne mich gleichzeitig an diesen Spruch zu erinnern.
Mein Plan ist es jetzt, mir eine Tasse Kaffee zu kochen, flüstere ich mir.
Mit der Trägheit eines 90-Jährigen schleppe ich mich zum Herd und mache mir einen kräftigen Kaffee; das Wasser fängt gerade an zu kochen, ich werfe gähnend drei volle Löffelinhalte Kaffeepulver hinein, ehe mein Handy vibriert.

„Ja, was gibt’s?“
„Guten Morgen! Geht’s dir gut?“
„Ja.“
Kurze Stille.
„Hast du die Nachrichten gehört?“
„Noch nicht, ich wollte erstmal Kaffee kochen. Bin gerade eben aufgestanden.“
„Ok, pass auf. Osama meint, es wäre gut, wenn du heute spät zur Redaktion kommst. Besser wäre es aber, wenn du ganz Zuhause bleibst. Die Situation ist angespannt.“
„Was ist passiert?“
„Die Schmutzsöhne mobilisieren schon wieder. Sie haben gestern Nacht mit den Festnahmen angefangen. Pass lieber auf dich auf.“
„Keine Sorge, sie kennen meinen Namen, sie wissen schon, wer ich bin. Mir passiert schon
nichts.“
„Trotzdem, pass auf dich auf, Salam.“
Er legte auf.
„Eine einzige Demonstration und alle fangen an auszuflippen.“, murmele ich leise vor mich
hin.
Der Kaffee ist übergekocht und hat den ganzen Herd verschmutzt. Toll! Denke ich mir.
Ich mache mir einen neuen und laufe ermüdet zum Balkon.
Ich drehe mir eine Zigarette und fange an zu Rauchen. Von Oben sieht die Straße friedlich
aus.
An ungewöhnlichen Tagen denke ich öfter an sie, vielleicht auch deshalb, weil sie selbst eine ungewöhnliche Frau war. Ich sehne mich nach ihr, ich weiß jedoch nicht ob ich sie tatsächlich vermisse. Ich hatte nie den Schlüssel zur Welt des Varmissens, hocke stattdessen seit jeher auf der untersten Sehnsuchtsstufe in dessen Vorgarten. Alles schaut heute normal aus, gewöhnliche Lautstärke auf der Straße, viele halb-nervöse Passanten, überlagerte stechende Gerüche, und Hundert verschiedene Lieder, die gerade gleichzeitig gespielt werden. Ein einziges unfassbar lautes und sinnfreies Lied. Der Brotbote läuft pfeifend mit einer Art flachem Vogelkäfig aus geflochtenem Stroh auf seinem Kopf. Das dunkle Brot sieht appetitlich aus. Daneben schreit Ali, wie immer, seinen Lehrling an, und von Gegenüber versucht Onkel Mostafa lachend zu schlichten. Onkel Mostafa ist kein
Verwandter von mir, nur jeder nennt ihn so. Ich auch, obwohl er vermutlich gerade nur 10
Jahre älter ist als ich.
„Lass den Jungen in Ruhe, Ali!“
„Komm! Lies, was die Schmutzsöhne wieder verbockt haben.“

Onkel Mustafa hat alle Regimeanhänger so genannt: Schmutzsöhne. Ali dagegen nannte alle so, die er nicht mochte. Vor allem die reichen Geschäftsmänner, die alle paar Jahre wegen Steuerhinterziehung und Nötigung vor Gericht stehen.
Die Straße ist schmal, sie sieht eher wie ein länglich gedehntes Quadrat aus, drum herum sind drei große Häuser, wovon in einem meine Wohnung liegt. Auf der linken Seite liegt nur der Laden vom Tunesier, wie er wirklich heißt habe ich nie erfahren. Neben ihm ist eine schmale Gasse, die aus unserer Straße führt. Sein Gesicht sieht sehr alt aus, wie aus einer fernen Zeit, als wäre er bereits dreimal gestorben und auferstanden. Er hat einen prächtig weißen Schnurrbart, jedoch keine Haare mehr. Manchmal, wenn er sich gerade vor dem Laden sonnt, glänzt sein nackter Kopf so stark, dass dessen Reflektion die Fassade hinter ihm hell erleuchtet; die Kinder lachen immer von weitem, wenn sie das sehen. Er hat viele raue Falten, eher tiefe Klufte. Man bräuchte einzig eine gute Beleuchtung und eine hochwertige Kamera und mit ein paar Nahaufnahmen könnte man leicht behaupten, man wäre im Grand Canyon gewesen. Der Block ist ziemlich alt, alle Gebäude sind mit einander über die dritte und die dreizehnte Etage verbunden. Über dem Eingang meines Gebäudes steht 1881, ich denke, dass damit das Baujahr gemeint ist. Der verwaschen braune Putz der Fassaden, aller Fassaden, bröckelt und an den Dachspitzen breiten sich schwarze Flächen aus. Der Boden der Straße ist fest zusammengepresst, dass man nur raten kann, ob es alter trockener Schlamm oder doch abgewetzter Asphalt ist.

Sie könnte hier nie leben, allein die Tatsache, dass es keine Kaffeemaschine in der Wohnung gibt und die Cafés hier lieber Tee servieren, würde ihr als Grund dafür reichen. Für eine gute Tasse Kaffee muss man in die Stadt fahren.
Auf dem Balkon gegenüber sitzt Miriam, ein Frauenmagazin lesend, und grüßt mich mit einem Nicken, ich erwidere.
Seitdem sie geheiratet hat, sitzt sie dort ohne Kopftuch. Ihr Mann hat sein halbes Leben in Europa verbracht, heißt es. Er hält weder von der Religion noch von der Tradition irgendetwas, daher besteht er darauf, dass sie sich ohne es zeigt. Einmal, ein paar Tage nach der Hochzeit, sah ich sie beide vom Balkon streiten, sie wollten scheinbar gerade ausgehen, sie hatte ein Kopftuch an und er saß auf dem Sofa und weigerte sich sich zu bewegen, ich vermute, sie musste das Kopftuch ausziehen, damit er mit ihr einkaufen geht.
Jetzt kommt er heraus, er mit seinen überproportionalen Boxershorts, welche wie eine Basketballhose aussehen, dazu ein weißes Unterhemd. Er beugt sich leicht herunter und küsst sie auf dem Kopf, sie lächelt und sagt etwas, was ich nicht hören kann, just lacht er und geht wieder kommentarlos hinein.
An der Seite neben Ali’s Laden steht Bilal mit dem Rücken an die Wand angelehnt und schaut nach oben, zur dritten Etage im Haus nebenan, seine Mundwinkel erweitern sich allmählich, sie späht nach ihm durch die Gardinen am Fenster. Iman weiß, dass Bilal sie sehen kann, dennoch ist es besser so, so kribbelt es mehr im Bauch, meint sie. So entfacht sich die Liebesflamme, meint er. Beide kennen die Regeln, begnügen sich mit dem Möglichen und beherrschen das Spiel auf ihre eigene Art.
Es sieht alles wie immer aus, als hätte keiner den Knall von vorhin wahrgenommen. Ich stehe auf und strecke meinen angeschlagenen Rücken, er protestiert mit hörbar kratzigem Knacken. Ich blicke nach rechts und stelle fest, dass der Kushari-Wagen nicht an seinem Platz steht, und frage mich, was der Grund sein könnte. Saeed hat den Zugang der Straße seit mehr als 20 Jahren für sich beansprucht, sein Wagen ist ein Teil der Straße geworden, ein regionales Wahrzeichen, gar ein Denkmal. Und plötzlich erinnere ich mich daran, was mir Hassan am Telefon gesagt hat; bestimmt wurde er auch festgenommen, denke ich mir.
Ich rufe Hassan an, er geht nicht ran.
Ich lese die Nachrichten auf meinem Handy, scheinbar kocht die Stadt seit gestern. Mein Wort auf der Demo gestern wurde auf allen Kanälen geteilt, es wurde zitiert, für Memes genutzt und unter Graffitis gesprüht. Die Jugend nennt es Revolution, die Medien Frühling, für die Regierung ist es einfach ein unverschämter Aufruhr und ich finde es gerade beachtlich ironisch, dass sich meine sichtbare Enttäuschung meinem kalt gewordenen Kaffee zuwendet.
Es war meine erste Demoteilnahme seit ich hierher gezogen bin, vor acht Monaten. Ich sollte da eigentlich nur ein paar Demonstranten befragen, ein paar Fotos machen und anschließend einen nicht sehr langen Artikel darüberschreiben.
Plötzlich ist es sehr laut geworden, ich schaue nach unten, auf die Straße. Ich hasse Höhen,
ich versuche immer steile Kanten zu vermeiden, wie die einer Balkonwand, ich sage immer,
ich habe Höhenangst, dabei fürchte ich eher den freien Fall.
Alle gehen raus, stehen aufgeregt auf den Balkonen, schauen verwundert aus den Fenstern.
Ali fragt Onkel Mustafa, was los sei, und der Tunesier macht seinen Laden zu.
Ein tiefer Lärm ist zu hören, er wird lauter und lauter, viele Rufe, die ich nicht deuten kann,
ein dröhnender Tumult.
Abrupt tritt ein junger Mann aus dem Haus nebenan, ihn habe ich noch nie gesehen. Er
schaut ängstlich hinter sich, er macht kleine verwirrende Schritte nach vorn und blickt immer
wieder zurück; er sieht etwas verloren aus. Sogleich läuft eine große Menschenmenge aus
dem Haus, ruft, schreit aus voller Kehle und zeigt auf ihn. Das vernehmbare Getümmel rollt
wie eine Lawine und fegt auf seinem Weg alles durch. Er schaut hoch zu mir und ich zeige
zum Gebäude links neben dem Tunesierladen. Er hastet hin und blickt noch einmal hinter
sich zum Getümmel, dann wieder zu mir, ich zeige drei Finger, danach verschwindet er
ruckartig ins Haus.
Ich eile zur Tür. An der klobigen Ecke des Türrahmens schleicht die Spinne zur Seite, als
mache sie gerade Platz für meine Eile. Ich mache die Tür auf und höre wie viele stampfende
Füße durch das Treppenhaus hallen. Sie kommen näher und näher und hallen stärker und
stärker, jedoch sehe ich keinen von ihnen, als schluckte sie ein Labyrinth, als wären sie in der
Unendlichkeit für immer steckengeblieben.
Der junge Mann erscheint, stolpert an der letzten Stufe vor mir und fällt in meine Arme. Er
umarmt mich fest. Ich rege mich nicht; Menschen mit spürbaren Gefühlen machen mich
nervös. Ohne Worte zeige ich ihm den Weg durch den Flur zum Ende des Blockes, wo er
unbemerkt auf die Straße spazieren kann.
„Rette dich!“, sagt er und verschwindet im Flur zum nächsten Gebäude.

Ich spüre schon jetzt eine unerklärliche Aufregung in mir. Ich husche die Treppe hoch. Auf der
dreizehnten Etage laufe ich durch den Flur zum Gebäude nebenan, von da laufe ich die
Treppe herunter. Kurz danach höre ich, wie viele stampfende Füße durch das Treppenhaus
hallen. Ich renne ängstlich die Treppe herunter. Sie kommen näher und näher und hallen
stärker und stärker, jedoch sehe ich keinen von ihnen, als schluckte sie ein Labyrinth, als
wären sie in der Unendlichkeit für immer steckengeblieben.
Abrupt trete ich aus dem Haus nebenan; von unten sieht die Straße friedlich aus, die
Gebäude ragen lautlos in den Himmel, schöpfen Schatten und trotzen schamlos der
Mittagssonne. Ich schaue ängstlich hinter mich, mache kleine verwirrende Schritte nach vorn
und blicke immer wieder zurück; ich fühle mich etwas verloren. Sogleich läuft die große
Menschenmenge aus dem Haus, ruft, schreit aus voller Kehle und zeigt auf mich. Das
vernehmbare Getümmel rollt wie eine Lawine und fegt auf seinem Weg alles durch. Ich
schaue hoch, ein junger Mann mit einer Zigarette zeigt zum Gebäude links neben dem
Tunesierladen. Ich haste hin und blicke noch einmal hinter mich zum Getümmel dann zu
ihm, er zeigt drei Finger, danach verschwinde ich ruckartig ins Haus.

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